Anhalten. Hinschauen. Erinnern.

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IMAGINE:

Eine Straße in der die Vergangenheit zur Gegenwart wird. Eine Straße in der sich die Menschen nicht nur wie im gedrängten Tunnelblick unter den Reklameversäuchten Fassaden ihren Weg bahnen.

Stell dir ein Fenster vor, in dem einen Augenblick lang alles eingefroren scheint.

Ein Fenster das geöffnet steht, das dich einlädt.

Durch welches die Luft vergangener Zeiten strömt und dich nicht vergessen lässt, dass es etwas gibt, an was es sich zu Erinnern lohnt…

Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, als du unter den Bögen des Stuttgarter Tors stehst. In deinem Geist hörst du das rhythmische Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster, das gedämpfte Murmeln der Passanten, die hier 1905 ihre Wege kreuzten. Frauen in langen Kleidern und Männer mit Hüten passieren das Tor, und für einen Augenblick bist du Teil ihrer Welt. Doch dann verschwindet das Tor, die Menschen verblassen, und du siehst nur noch eine moderne Straße, hektisch und leblos. Was wäre geblieben, wenn das Tor die Zeit überlebt hätte?

Das Stuttgarter Tor, auch als Königstor bekannt, wurde im 18. Jahrhundert errichtet und markierte den Eingang zur damals ummauerten Stadt Stuttgart. Es diente nicht nur als architektonisches Wahrzeichen, sondern auch als Symbol für den Wohlstand der Stadt. Im Zuge der Urbanisierung und des wachsenden Verkehrsaufkommens wurde das Tor 1907 abgerissen, da es als Hindernis für den modernen Stadtverkehr galt. Damit verschwand eines der markantesten historischen Bauwerke der Stadt. Heute erinnert nichts mehr an den Ort, an dem einst die Stadttore standen, außer in alten Fotografien und Erinnerungen.

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Die Säulen des Königsbaus erheben sich majestätisch wie eine steinerne Hymne an vergangene Zeiten. Du siehst Menschen in feiner Kleidung, die sich unter den Arkaden versammeln, lachen, diskutieren und träumen. Die Nachmittagssonne taucht die Fassade in goldene Wärme, und du spürst die Würde und den Glanz, den dieses Gebäude ausstrahlt. Doch die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Heute rauschen moderne Schritte achtlos vorbei, aber wenn du innehältst, kannst du den Herzschlag des alten Stuttgarts spüren.

Der Königsbau wurde 1856 unter König Wilhelm I. von Württemberg im klassizistischen Stil erbaut. Der Entwurf stammte von Christian Friedrich von Leins. Ursprünglich sollte der Bau als Repräsentationsgebäude und Versammlungsort dienen. Über die Jahre beherbergte der Königsbau eine Vielzahl von Nutzungen, darunter ein Theater, ein nobles Café und zahlreiche Geschäfte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Königsbau schwer beschädigt, doch ab den 1950er Jahren schrittweise wiederaufgebaut. Heute beherbergt er die Königsbau-Passagen und ist ein Symbol für die Verbindung von Tradition und Moderne in Stuttgart.

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Das Hotel Marquardt atmet Eleganz. Die gedämpften Stimmen von Damen und Herren in Abendgarderobe hallen durch die hohen Flure. Es riecht nach frisch gebrühtem Kaffee und poliertem Holz. Hier treffen sich Reisende, Geschäftsleute und Künstler, ein pulsierender Treffpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Doch hinter dieser lebendigen Fassade liegt eine Vorahnung: die Zerstörung, die kommen wird. Der Geist des Hotels bleibt, doch die Struktur wird nie wieder dieselbe sein.

Das Hotel Marquardt war eines der renommiertesten Hotels in Stuttgart und wurde im späten 19. Jahrhundert erbaut. Es war ein Ort des gesellschaftlichen Austauschs und der Begegnung, bekannt für seine luxuriöse Einrichtung und den exzellenten Service. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Hotel durch Bombenangriffe fast vollständig zerstört. Nach dem Krieg wurde es wiederaufgebaut, jedoch nicht mehr als Hotel genutzt. Heute befindet sich an seiner Stelle ein Kino, das die ursprüngliche Fassade des Gebäudes teilweise bewahrt hat.

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Das Schloss steht wie ein steinerner Traum vergangener Pracht. Du siehst Kutschen vorfahren, Damen und Herren flanieren in der Abendsonne, die Fassade strahlt in edlem Glanz. Jeder Stein scheint von der Macht und dem Ehrgeiz der Herrscher zu erzählen, die es erbaut haben. Doch die Zeit hat es geschwächt, und was einst ein Monument der Herrschaft war, wird zum Zeugnis einer vergessenen Epoche.

Das Neue Schloss wurde zwischen 1746 und 1807 erbaut und sollte den Glanz der Württemberger Herrscher widerspiegeln. König Carl Eugen war der Hauptinitiator des Projekts, das aufgrund von finanziellen und politischen Schwierigkeiten immer wieder unterbrochen wurde. Das Schloss ist im barocken Stil gehalten, wurde aber später durch klassizistische Elemente ergänzt. Es diente als Residenz für die Herzöge und Könige von Württemberg und ist heute Sitz der baden-württembergischen Landesregierung.

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Schutt und Asche. Wo einst Prunk war, ist nur noch Stille. Die zerbrochenen Fensterbögen des Schlosses starren wie leere Augenhöhlen in die Welt, und der Rauch der Zerstörung zieht wie ein Schatten über die Stadt. Es ist 1945, und Stuttgart liegt in Trümmern. Doch in diesem Chaos wächst der Wunsch nach Wiederaufbau, wie ein zarter Trieb im verbrannten Boden.

Die Bombenangriffe auf Stuttgart im Zweiten Weltkrieg erreichten 1944 ihren zerstörerischen Höhepunkt. Die britische Royal Air Force und die US-Luftwaffe setzten eine perfide Strategie ein: Zunächst rissen Sprengbomben die Dächer der Häuser auf und hinterließen eine verwundbare Stadt. In der zweiten Welle folgten Brandbomben und Brandstäbe, die in die offenen Dächer eindrangen und die hölzernen Strukturen der Gebäude in Flammen setzten. Ganze Straßenzüge wurden in lodernde Feuermeere verwandelt. Die Hitze des Feuersturms war so intensiv, dass der Sauerstoff regelrecht aus der Luft gesogen wurde, was die Flammen weiter anfachte. Menschen suchten in Kellern Schutz, doch oft wurden sie von der Gewalt der Bomben überrascht. Stuttgart, einst eine blühende Stadt, lag am Ende des Krieges in Trümmern, mit über 53 Prozent der Gebäude vollständig zerstört. Die Angriffe hinterließen nicht nur physische, sondern auch seelische Narben, die die Stadt bis heute prägen.

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Der Schlossplatz vibriert. Tausende jubeln, die Luft ist elektrisiert. Du siehst lachende Gesichter, Menschen, die sich umarmen, und spürst die Euphorie dieses einmaligen Moments. Es ist nicht nur ein Spiel, es ist Geschichte, die hier auf den Straßen Stuttgarts gefeiert wird.

Am 8. Juli 2014 feierte Deutschland einen der größten Triumphe in der Geschichte des Fußballs. Das 7:1 gegen Brasilien im Halbfinale der Weltmeisterschaft wurde auf dem Schlossplatz in Stuttgart von tausenden Fans bei einem Public Viewing verfolgt. Es war ein Moment, der für immer in Erinnerung bleibt – nicht nur im Sport, sondern auch in der kollektiven Erinnerung der ganzen Nation.

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Die Straßenbahn zieht eine leise Melodie durch die Stadt. Metallisches Quietschen, das sanfte Rumpeln der Räder – ein täglicher Rhythmus, der den Schlossplatz lebendig machte. Du siehst Menschen einsteigen, winken, eilen. Die Bahn ist nicht nur ein Verkehrsmittel, sie ist Teil der Geschichte, eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Heute ist der Platz stiller, grüner, aber die Erinnerung an die schienengeführte Bewegung bleibt.

Bis 1972 fuhr die Straßenbahn über den Schlossplatz in Stuttgart und prägte das Stadtbild. Die Gleise verbanden zentrale Punkte der Stadt und boten den Bürgern eine schnelle Möglichkeit, sich fortzubewegen. Mit dem Umbau des Schlossplatzes in den 1970er Jahren, der auf eine Neugestaltung des Stadtzentrums abzielte, wurden die Straßenbahnen aus diesem Bereich verbannt. Die Umwandlung des Platzes in eine Fußgängerzone schuf einen neuen Raum für Begegnungen und Veranstaltungen, entfernte jedoch auch ein Stück städtischer Geschichte.

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Die großen Steinwürfel stehen schweigend da, schwer wie die Vergangenheit, die sie symbolisieren. Bei ihrer Einweihung ist die Luft von Ernsthaftigkeit erfüllt, von Reden, die ins Bewusstsein rufen, was niemals vergessen werden darf. Du spürst den Druck der Geschichte, spürst die Last, die die Würfel tragen. Es ist ein Ort des Nachdenkens, ein stummer Mahner, der fordert, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Das Denkmal in der Nähe des Neuen Schlosses erinnert an die Verfolgung, Deportation und Ermordung von Menschen während der NS-Zeit. Die vier Steinwürfel wurden 2005 eingeweiht, gestaltet von dem Künstler Dani Karavan. Sie stehen symbolisch für die Unerschütterlichkeit der Erinnerung. Die Einweihung fand unter Beteiligung der Landesregierung, Überlebender und Historiker statt, die mit Reden den Opfern gedenken und mahnende Worte an die Nachwelt richteten.

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Der Duft von Gebratenem, Gebackenem, Gewürztem liegt in der Luft. Die sogenannte Fressgasse ist ein Ort voller Aromen und Stimmen. Du siehst Menschen an Tischen, die schnell eine Mahlzeit zu sich nehmen, das Klappern von Tellern und Gläsern vermischt sich mit dem Lachen der Gäste. Es ist ein lebendiger, quirliger Ort, an dem die Vielfalt der Stadt zum Ausdruck kommt. Und doch ist es nicht nur ein Ort des Essens, sondern auch einer, an dem Geschichten geteilt und Momente geschaffen werden.

Die Schulstraße in Stuttgart wird wegen ihrer zahlreichen Imbiss- und Gastronomiebetriebe seit jeher als „Fressgasse“ bezeichnet. Schon in den frühen Nachkriegsjahren war sie ein Anziehungspunkt für alle, die schnelle und preiswerte Speisen suchten. Besonders die Schnellgaststätten am Eingang der Fressgasse waren bekannt für lokale Spezialitäten und internationale Gerichte. Die Gasse entwickelte sich zu einem Synonym für urbane Esskultur in Stuttgart, die bis heute Bestand hat. Die Mischung aus Tradition und Moderne prägt die Atmosphäre.

Wir sind am Ende der Straße angekommen.

Halte an wenn du das nächste Mal wie mit Scheuklappen über ihr Pflaster rennst.

Schau hin, was siehst du jetzt?

Erinnere dich, es lohnt sich.

Quellen:

https://zeitsprung-stuttgart.de

2 https://archiv0711.hypotheses.org/23040

3 https://www.stuttgart-tourist.de/a-neues-schloss-stuttgart

4 https://www.stuttgarter-zeitung.de/gallery.stuttgart-album-zur-legendaeren-freitreppe-war-das-eine-geile-zeit.038c67c6-999e-4859-b4c4-dc4b7c601497.html

5https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.fussball-wm-kein-zentrales-public-viewing-auf-dem-stuttgarter-schlossplatz.d1ab256a-ebd3-44de-8b2f-3740aae08ce7.html

6https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.von-zeit-zu-zeit-die-schulstrasse-vom-humanismus-zum-hering.f09635fc-a39b-4ad0-9eba-968cb11325df.html

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